Die Roten Reporter – DER KREIS
Als die Bremer Jugendkantorei 2010 „Die Roten Reporter“ auf die Bühne brachte, schien die Welt noch eine andere. Das von der Zeit der Weimarer Republik erzählende Bühnenstück ließ die Agitprop-Gruppen der 1920er und 1930er Jahre wieder lebendig werden und thematisierte den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Arbeits- und Existenzbedingungen und der Infragestellung demokratischer Strukturen, einhergehend mit Radikalisierungen, die zu den schlimmsten Gräueltaten des 20. Jahrhunderts führten. Der mahnende Apell jener Produktion war unüberhörbar.
Und nun, 2023, eine Dekade nach der Uraufführung der „Roten Reporter“, gehören Ausnahmezustände zu unserem Alltag; das nicht-krisen-hafte hingegen ist ein Zustand, an den manche sich kaum noch erinnern können. In Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen wurden in der jüngsten Vergangenheit häufig Vergleiche zur Weimarer Republik bemüht und parallele, bzw. sich wiederholende Dynamiken diagnostiziert.
Der Wunsch der Bremer Jugendkantorei, die Produktion von 2010 wieder auf die Bühne zu bringen, stand nun folgenden Fragen gegenüber: Warum eine Geschichte wiederholen, die aus ihrer Handlung keinen Ausweg findet? Warum hat das Lernen aus der Geschichte einen so hohen Stellenwert, wenn aus ihr doch nur die falschen Schlüsse gezogen werden?
Die Wiederholung und die Verweigerung derselben ist eines der beiden Grundmotive der aktuellen Produktion. Ausgehend von einer einseitigen und unvollständigen Geschichtsschreibung dekonstruiert „DER KREIS“ auch die Idee einer linearen Geschichte auf der Bühne, wie sie in „Die Roten Reporter“ von 2010 noch angelegt war.
Die Bühnenhandlung wandelt sich in ihrem Verlauf in eine Musik-Text-Collage, in der die Figuren nicht zwangsläufig ihrer eigenen Geschichte ausgeliefert sind, sondern sie zu Handelnden, Sehenden, Wahrnehmenden und empathischen Wesen macht, die aus der Geschichte heraus und in den Dialog treten. So verweigert sich schon der Sprechtext „Alles ist nah“ mit seiner Unmittelbarkeit des gesprochenen Wortes konsequent jeglicher Übersetzung in Bühnenfiguren und der Möglichkeit einer damit einhergehenden distanzierten Betrachtung.
In „DER KREIS“ stehen die Roten Reporter*innen einer Gruppe von pubertierenden Kindern unserer Zeit gegenüber, die auf den ersten Blick das machen, was fast alle pubertierenden Kinder machen.
Trotz all der desinteressierten Geringschätzung, die ihnen entgegenschlägt, eröffnen sie den Blick in eine andere Richtung, in etwas offenes und helles - einen uns zugewandten Raum.
Die Figur, die die Zeiten miteinander verbindet, ist die Exilantin. Sie ist es, die aus unterschiedlichen Perspektiven kommentiert, reflektiert und mögliche Hinweise darauf gibt, wer wir gewesen sein werden.
DER KREIS - Bertolt Brecht
Eingebettet in die Inszenierung von „DER KREIS“ sind zwei Ausschnitte aus „Das Badener Lehrstück vom Eingeständnis“ von Bertolt Brecht. Überschrieben sind sie mit: Untersuchungen, ob der Mensch dem Menschen hilft. Im Stück werden diese beiden Untersuchungen aufgeführt von den Roten Reporter*innen, die im Café Flora für ihre nächsten Auftritte proben.
Ende der 1920er Jahre, schon während der Zeit seines großen Bühnenerfolgs mit der „Dreigroschenoper“ begann Brecht seine Arbeit an den Lehrstücken, mit denen er einer anderen, einer neuen Idee von Theater Vorschub leisten und das System zwischen Spieler*innen & Zuschauer*innen vollständig verändern wollte: „Das Lehrstück lehrt dadurch, dass es gespielt wird, nicht dadurch, dass es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden“, notiert Brecht in seinen Spielanleitungen zum Lehrstück „Die Maßnahme“. Das Lehrstück lehrt also durch das Spielen, nicht durch das Sehen, professionelle Schauspieler*innen und klassisches Publikum sind hier nicht mehr vorgesehen, gespielt werden sollen die Stücke von Laien, die Spielenden werden somit selbst zu Studierenden.
Inwieweit sich dieses Theater von Brecht durchgesetzt hat, vermag keiner weiteren Erläuterung. Auch in Brechts späteren Produktionen blieb die Zweiteilung zwischen Bühne und Publikum bestehen; die Aktivierung des Publikums blieb dennoch eines seiner wichtigsten Anliegen: Die Bühne gibt keine Antworten, sondern sie zeigt die Bedingungen, unter denen Menschen leben und stellt damit existentielle Fragen - die Antworten liegen im Publikum.
Inhaltlich beschäftigte sich Brecht Ende der 1920er Jahre mit den gleichen Fragen, die auch die zahlreichen Agitprop-Gruppen dieser Zeit bewegten. Die Erste Untersuchung, ob der Mensch dem Menschen hilft thematisiert sehr konkret die andauernde Diskrepanz zwischen vermeintlichem Fortschritt und den tatsächlichen Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse.
Die Dritte Untersuchung, ob der Mensch dem Menschen hilft, ist vielen bekannt als Clownsnummer. Im Dritten Reich etablierte der Kronjurist Carl Schmitt konsequent die Verabsolutierung von Gegensätzen. Es gab nur noch zwei Kategorien - in der Moral: gut und schlecht, in der Kunst: schön und hässlich, unter den Menschen: Freund und Feind. Die Idee der Trennung war absolute Zielsetzung und diente als Legitimation für Verbote, Ausgrenzung, Krieg und Vernichtung. Der Kleinbürger Schmitt, der sich nun in Brechts dritter Untersuchung wiederfindet, sieht sich am Ende von sich selbst befreit; von allem Überflüssigen entledigt ist ihm zu leben aber unmöglich geworden. Sehr eindeutig beantwortet Brecht also Schmitts problematischen Denkansatz, an dessen Ende die Ermordung von mehreren Millionen Menschen stand.
Man staunt immer wieder über die Aktualität von Brechts Stücken; schon allein in der Betrachtung dieser beiden Auszüge offenbaren sich einerseits beklemmende, andererseits aber auch wenig überraschende zeitgenössische Bezüge. Die in „DER KREIS“ behauptete Verbindung zwischen den Roten Reporter*innen und Brechts Texten ist rein fiktiv, allein Brechts Zeitgenossenschaft mit den Agitprop-Gruppen sowie deren inhaltlichen Überschneidungen gaben den Ausschlag für diese Nahtstelle.
DER KREIS – der Chor
Wie schon die Musiktheaterproduktion „WAS TUST DU“ von 2021 entwickelte die Chorleiterin Ilka Hoppe die Idee zu „DER KREIS“ zusammen mit Theaterpädagog*in Nika Jäger. Neben der Erarbeitung eines vielschichtigen musikalischen Programms entwarfen die Jugendlichen eigene Bühnentexte und waren an der Ausarbeitung ihrer Bühnenfiguren sowie in die Gestaltung wesentlicher Elemente des Stückes in hohem Maße eingebunden. Mit den Sprechtexten, mit denen die Spieler*innen kurz vor Ende des Stücks in den direkten Dialog gehen, betreten sie den zuvor geöffneten, uns zugewandten Raum, in welchem wir der direkten Bezugnahme nicht entweichen können.
Hier findet sich das zweite Grundmotiv dieses Theaterabends: wir befinden uns in Zusammenhängen; wir existieren nicht losgelöst von den Strukturen dieser Welt, sondern stehen mit Menschen an den entferntesten Orten dieser Erde genauso in Bezügen und Bezugnahmen wie mit jenen, die sehr offensichtlich Teil unseres Lebens sind. Dies zu begreifen könnte als Ausgangspunkt eines Austrittes aus einem sich immer wiederholenden Kreis dienen. Die Liebe, von der hier die Rede ist, darf nicht als esoterische Heilsformel oder als Slogan verstanden werden, vielmehr erzählt sie von der Sehnsucht nach Begegnung, als Voraussetzung eines auf Dialog ausgerichteten Zusammenlebens aller Menschen in Würde.
DER KREIS – MUSIK
Bleicheren Nachtlied - Robert Schuhmann
Roter Wedding - Text: E. Weinert/Musik: H. Eisler (Arr.: Johannes Grundhoff)
Song von den brennenden Zeitfragen - „Die Nachrichter“ (Arr.: BKO)
Der Marsch ins dritte Reich - Text: E. Busch/Musik: H. Eisler (Arr. Johannes Grundhoff)
Solidaritätslied - Text: B. Brecht/Musik: H. Eisler (Arr. Johannes Grundhoff)
Eine kleine Sehnsucht -T.+M. F. Holländer (Arr.: K. Fischer )
Wie hab ich nur leben können - Text: F. Holländer/R. Gilbert/Musik: F. Holländer (Arr.: Klaus Fischer)
Es geht ein dunkle Wolk herein - Text und Musik: J. Werlin (16.Jhd.) Satz: Jürgen Knuth
Der Mensch lebt und besteht - Text: M. Claudius/Musik: Max Reger op.138
In Paradisum - Gabriel Faure' aus dem Requiem op.48 (Arr.: Constantin Dorsch)
Am Ende muss es Liebe sein - Text: Nika Jäger/Musik: H. Kiessling (Arr.: Klaus Fischer)
gespielt vom Bremer Kaffeehaus-Orchester
Flöte: Klaus Fischer, Annett Becker-Edert
Violine: Vera Marreck
Violoncello: Juan Cobos
Kontrabass: Anselm Hauke
Klavier: Machiko Totani
Schauspiel & Gesang - die Bremer Jugendkantorei
Clara-Marie Martinka, Nathan Thaddeus Jäger, Jannis Raschka, Franka Mawn, Jonna Feline Jäger, Lina Gessele, Moritz Riedel, Julian Carniel, Louisa Krügerke, Henry Mawn, Marla Ollmann, Elias Toure, Paul Kaiser, Ria Anouk Richardt, Clara Grendel, Emmely Ly, Linnea Moana Vogler, Ebba Jaquet, Jonna Steuck, Emma Maria Röschner
als Gast Ensemblechor
DER KREIS - die Produktion
MUSIKALISCHE LEITUNG Ilka Hoppe
BUCH, DRAMATURGIE & REGIE Nika Jäger
REGIEASSISTENZ & SOCIAL MEDIA Clara Engel
AUSSTATTUNG & KOSTÜME Susanne Raschka
BÜHNE Ilka Hoppe & Nika Jäger
LICHT & TECHNIK Fabian Feller
KASSE & ORGANISATION Katja Ollmann & Lars Jaquet
PRESSE & ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Walli Müller
SIEBDRUCK 3B